Manche Biographien riechen nach Zigarre, andere nach Puder.
Culpa – Notizen zum „Echolot“, 2005

„Suche Biographien jeder Art!“


Als der zehnjährige Walter Kempowski in Rostock von einem Freund seines Vaters gefragt wurde, was er später einmal werden wolle, soll der junge Walter im Brustton tiefster Überzeugung geantwortet haben: „Archiv.“
So überliefert es die Familiengeschichte. Doch diese Erinnerung ist mehr als eine Anekdote. Denn Walter Kempowski erfüllte sich diesen Berufswunsch viele Jahre später tatsächlich, als er am 1. Januar 1980 in Nartum das Archiv für unpublizierte Autobiographien gründete. Hier sammelte er Lebenserinnerungen, Tagebücher, Briefe, Fotoalben und Fotos, aber auch Reiseberichte, Kindheitserlebnisse, Kalendernotizen und andere, manchmal durchaus skurrile Dokumente der deutschen Alltagskultur.
Walter Kempowski suchte auf Flohmärkten und bei Trödlern nach Aufzeichnungen und Fotos, bei Fernsehauftritten bat er um Unterstützung, in überregionalen Tageszeitungen schaltete er Inserate: „Ich suche Biographien jeder Art, auch Tagebücher, Fotos und Fotoalben. Walter Kempowski“.

 

Das Archiv – bedeutsame Grundlage für das „Echolot“

 

Dieser Einsatz wurde belohnt: Tausende meist unbekannter Personen schickten über Jahrzehnte ihre Einsendungen aus unterschiedlichsten Epochen deutscher Geschichte nach Nartum. So entstand eine der beeindruckendsten Sammlungen mit mehr als 8.000 Einzelsignaturen, Hunderten von Fotoalben und ca. 300.000 Einzelfotos – eine Sammlung, deren Aufzeichnungen und Fotos aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs die Basis für Walter Kempowskis Jahrhundertwerk „Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch“ bildeten.

 

Das Archiv für unpublizierte Autobiographien ist im Jahr 2005 in die Akademie der Künste nach Berlin umgezogen und gehört dort seitdem zu den meistnachgefragten Beständen.

Ich arbeitete heute im Archiv, las verschiedene Biographien, ließ Lebensläufe bis zum Schmerz durch mich hindurchgehen, die Nr. 51, das Tagebuch eines Vaters, der seinen einzigen Sohn verliert. Diese Sammlung ist wirklich großartig, sie konserviert alles.
Culpa – Notizen zum „Echolot“, 2005

Seit langem bin ich wie besessen von der Aufgabe zu retten, was zu retten ist, ich habe nie etwas liegenlassen können, ich habe aufgesammelt, was zu bekommen war, und ich habe alles gesichtet und geordnet. Den Guten, die auch immer ein wenig böse sind, und den Bösen, die auch von einer Mutter geboren wurden, habe ich zugehört, und ich habe ihre Texte zu einem Dialog formiert.
Das Echolot – Ein kollektives Tagebuch, 1993

Das „Gammelbuch“: Tagebuch einer jungen Verkäuferin aus West-Berlin, 1970er-Jahre

Ich bin nur die Anlaufstation für etwas, das sonst kein Interesse findet, nicht geachtet wird und vielleicht sogar weggeworfen oder vernichtet werden würde.
Walter Kempowski im Gespräch mit Volker Hage, September 1993

Papptafel eines Obdachlosen, 1990er-Jahre

 

 

 

 

Walter Kempowski über „Das Echolot – Ein kollektives Tagebuch“, 1993


„Echolot“ – unheimlich der Umfang. Aber „in kurz“ geht das nicht. Das ist es ja gerade. Wir öffnen den Ameisenbau, und sie leben noch, die kleinen Krabbelchen. – Unter dem Elektronenmikroskop. Jedes Schicksal ist einmalig. Vor dem Schlimmen, das man da zu hören kriegt, schreckt man nachts hoch. Aber, nur cool, nur geschäftsmäßig-wissenschaftlich herangehen an die Sache, das liegt mir nicht. Ich gehöre nicht zu den Anatomen, die neben der exhumierten Leiche ihr Frühstücksbrot essen, bzw. Spaghetti.

Alkor – Tagebuch 1989, 2001

Jahre später, als ich in Göttingen studierte, sah ich einen Haufen Fotos und Briefe auf der Straße liegen, die Menschen traten darauf: es war die letzte Hinterlassenschaft eines gefallenen Soldaten, Fotos aus Rußland und Briefe an seine Braut. Das gab mir einen Stich, und ich sammelte die Sachen ein.


Das Echolot – Ein kollektives Tagebuch, 1993

Feldpostbriefe eines Wehrmachtssoldaten in Norwegen, 1941 bis 1945