Walter Kempowski am 19. April 1983
Sirius – Eine Art Tagebuch, 1990

Merkwürdig, daß alle meine Berufswünsche in Erfüllung gegangen sind: Schulmeister, Schriftsteller, Archivar.

Ich kann überall schreiben: im Zug, im Auto (wenn meine Frau chauffiert) – morgens, mittags oder nachts, ganz egal. Unbeschreiblich dann der Augenblick, wo man das fertige Buch in der Hand hält.
Walter Kempowski im Gespräch mit Volker Hage, Januar 1972

„Prinzipiell alles notieren!“


Am 29. April 1929, an einem Montag gegen 20 Uhr, wurde in Rostock Walter Kempowski geboren. Die siebenjährige Schwester Ulla und der sechsjährige Bruder Robert besuchten die Mutter kurz nach der Geburt. Ulla kommentierte mit enttäuschtem Gesicht: „Wieder so’n Bengel, die werden nachher so frech.“
Dies und noch viel mehr erfuhr der erwachsene Walter, als er seine Mutter, die Geschwister und viele andere Verwandte und Freunde der Familie in den 1950er-/1960er-Jahren nach ihren Erinnerungen befragte. Zu diesem Zweck hatte er sich ein Tonband angeschafft – die Mitschnitte transkribierte er mit der Schreibmaschine, sie wurden überarbeitet, ergänzt und wieder abgeschrieben.

 

Die „Deutsche Chronik“: Romane und Befragungsbände

 

Dieser so zusammengetragene Erinnerungspool bildete das Fundament für die „Deutsche Chronik“. Sie besteht aus den Romanen „Aus großer Zeit“, „Schöne Aussicht“, „Tadellöser & Wolff“, „Uns geht’s ja noch gold“, „Ein Kapitel für sich“ und „Herzlich willkommen“.

Walter Kempowski erzählt die Geschichte seiner Familie, beginnend in der wilhelminischen Zeit bis in die 1960er-Jahre; er erzählt vom Leben mehrerer Generationen in Rostock, von der Reederfamilie, von Alltag, Hochzeit und Liebe, von zwei Weltkriegen, von Bombenangriffen, vom Tod des Vaters, der 1945 an der Frischen Nehrung fiel. Walter Kempowski berichtet von seiner Verhaftung, von Gefängnis und Schuld – aber auch vom Neustart in Westdeutschland nach der Haftentlassung. Die den Romanen beigeordneten Befragungsbände „Haben Sie Hitler gesehen?“, „Haben Sie davon gewußt?“ und „Immer so durchgemogelt“ zeigen das weite Spektrum von Perspektiven, Ansichten und Blickwinkeln anonym bleibender Zeitzeugen auf. Die „Deutsche Chronik“ entstand in den Jahren 1968 bis 1984, vorher hatte der Autor zwölf Jahre lang an seinem Erstlingswerk, dem Haftbericht „Im Block“ gearbeitet; das Buch erschien 1969 – von der Kritik gelobt, vom Publikum jedoch kaum wahrgenommen.

Mein Vater hat […] nie viel über seine Familie erzählt. Aber meine Mutter war dafür als Zeugin umso ergiebiger. Schon in Göttingen 1959 habe ich all ihre Geschichten auf Tonband genommen […]. Es ist unglaublich, wie eindringlich und farbig sie erzählte, sprachlich immer in Form. Wenn auch im Hinblick auf die Schwiegermutter vielleicht nicht immer ganz sachlich.
Ihre Erzählungen waren besonders wichtig für meine Romane. Ich hätte sie ohne sie gar nicht schreiben können.

Jahre des Lebens [unveröffentlichtes Manuskript]

Die „roten Bände“ enthalten die von Walter Kempowski zusammengestellte Familienchronik.

Ich habe schon immer Zettel beschrieben, meistens im Postkartenformat, damit ich sie in die Brieftasche tun und mit mir herumtragen kann. Andererseits natürlich auch, um ein einheitliches Format für den Karteikasten zu haben. Jeder Zettel hält einen besonderen Eindruck fest, ein Bild oder eine Erinnerung. Diese Zettelsammlung habe ich oft bei Bahnfahrten vermehrt, und ehe ich mich’s versah, wuchs mir unter der Hand ein ganzes Zettel-Imperium heran.
Walter Kempowski im Gespräch mit Siegfried Lenz, 15. November 1981

 

Lieblingsbeschäftigung: Schreiben

 

Im Anschluss an die „Chronik“ folgten Kinderbücher und zahlreiche weitere Romane, u.a. die mit Alexander Sowtschick, einem kauzigen Schriftsteller, der im Sommer einen Winterroman schreibt („Hundstage“) und sich kurz vor dem Mauerfall auf eine Lesetour durch die USA begibt („Letzte Grüße“).
Walter Kempowski war außerdem ein unermüdlicher Tagebuchschreiber – getreu seinem Motto: „Ein Schriftsteller, der kein Tagebuch schreibt, ist irgendwie schiefgewickelt, mit dem stimmt was nicht.“ Im Laufe der Jahre füllte er Tausende von Seiten, das Tagebuch war sein ständiger Begleiter. In den veröffentlichten Bänden „Sirius“, „Alkor“, „Hamit“ und „Somnia“ zeigt er sich als sensibler Kommentator, aber auch als (durchaus kurios-kritischer) Beobachter seiner selbst.

 

Das „Echolot“ – ein Jahrhundertwerk

 

Mit dem „Echolot“, dessen erste vier Bände 1993 erschienen, schuf Walter Kempowski ein Gegengewicht zur „Deutschen Chronik“. Er selbst bezeichnete es als „einen großen Dialog, der meine ‚Chronik‘ wispernd begleitet.“ Es ist „eine Art Parallelunternehmen, gewissermaßen der zweite Rumpf des Katamarans“. Das zehnbändige „Echolot“, das auf knapp 8.000 Seiten Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs mit den Stimmen vieler unbekannter, aber auch prominenter Zeitzeugen abbildet, wurde zur literarischen Sensation. Es gilt bis heute als eines der eindrucksvollsten Projekte der deutschen wie auch internationalen Literaturgeschichte.

Man hat oft Einfälle, die sofort wieder weg sind, also: Zettel bei sich haben und alles, prinzipiell alles notieren! Gerade das, was man nicht aufschreiben will, weil man glaubt, das ist ja läppisch, gerade das ist wichtig.

Walter Kempowski im Gespräch mit Volker Hage, Januar 1972

 

Schriftsteller, Pädagoge und Archivar

 

Walter Kempowski war nicht nur ein experimentierfreudiger Schriftsteller, er war auch Pädagoge und arbeitete viele Jahre als Dorfschullehrer. Außerdem gründete er das Archiv für unpublizierte Autobiographien und die Kempowski Stiftung Haus Kreienhoop.
Sein literarisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und erscheint im Knaus Verlag, München.

Walter Kempowski starb im Jahr 2007 in Rotenburg/Wümme. In seinem Nachlass finden sich noch zahlreiche unveröffentlichte Manuskripte.

Mein Werk wird später wahrscheinlich auf den sattsam bekannten Satz „Wie isses nun bloß möglich!“ zusammenschrumpfen, und das ist für ein Menschenleben schon viel, analog zu „Ich weiß, daß ich nichts weiß.“
Hamit – Tagebuch 1990, 2006