Auszug aus „Im Block – Ein Haftbericht“, 1969

 

Im Morgengrauen holten sie mich aus dem Bett. Zwei trugen Lederjacken. Da hast du was zu melden, wenn du wieder rüberkommst, dachte ich.
Einer nahm aus dem Wäscheschrank Briefe und Tagebücher. Ein anderer strich über die Tapete.
Meinen Ring konnte ich unbemerkt in die Nachttischschublade abstreifen.

Sie legten mir keine Handschellen an. Beim Hinuntergehen faßte einer mit zwei Fingern meinen Ellbogen.
Oben stand meine Mutter mit aufgelöstem Haar. Auf der Straße Doppelposten mit Gewehr.
Im Fenster des Hausmeisters bewegte sich die Gardine. Im Schaufenster der Drogerie Fotos vom Strand.

Wir fuhren ab. Trug der Fahrer eine Pickelmütze?
(In Riga erstach man die Stadtverordneten und warf sie in einen Brunnen.)
Ich hielt mich an der Troddel fest und suchte die Straße nach Bekannten ab. Drüben hatte immer der alte Weltzin in seinem Erker gesessen.

Ein Bretterzaun versperrte die verbotene Straße. Glatzköpfige Russenkinder davor. Rasch war der Schlagbaum aufgeseilt, ein Ausweis wurde nicht verlangt. Alle Türen standen offen.
Von Offizieren begleitet, schritt ich die Treppe hinauf. Oben ein Posten – unbewegt.
Der Wachhabende saß auf einem Gartenstuhl. Er hatte die Ärmel hochgestreift.

Im Keller nahm mich ein freundlicher Mongole entgegen. Krawatte abbinden – ich trug eine rote –, Schnürsenkel rausziehen, Brieftasche hingeben. (Das einzige Foto von H.) Brille ab.
Mit Stacheldraht umwobene Gitterstäbe: Kette und Schuß. Vor der Nachbarzelle eine Beinprothese.

Erstes Verhör.
An der Wand ein Stalin-Bild. Drei Offiziere mit hängenden Orden um mich herum. Ich antwortete nach allen Seiten.
Einer strich mir übers Haar: Guter Junge.
Er stellte ein Bein auf den Stuhl, fummelte an meinem Identification Pass und zählte es mir an den Fingern her: Aus’m Westen gekommen, Labor Company der US Army, Ami-Hemd – also Spion.
Im Straßenlautsprecher Chopin.

Ich war drei Schritt hinter mir. Große Entfernung trotz Naheinstellung. Zahlenziffern am Fadenkreuz. Kein Hätte-doch, kein Gedanke an Morgen, keinerlei Reim.
Reines Heute.

Ich mußte ins Auto steigen. Rasche Fahrt durch Regen. Der Begleiter gab mir fortgesetzt Zigaretten.
An einer Bahnschranke gab’s Aufenthalt. Gute Fluchtgelegenheit: Sie ließen mich raus zum Füße vertreten. Keine Hunde, keine Fessel, Wald.
Der Zug fuhr langsam vorüber.

Spätabends waren wir am Ziel.
Dunkle Toreinfahrt in weißbeworfener Wand. Auf der Zinne zerbrochenes Glas.
(Hier kriegst du Prügel.)
Der Begleiter bekam für mich eine Quittung und ging fort, ohne mich noch einmal anzusehen.

Ein Mensch, vor dem ich fürchterlich erschrak, öffnete mir Jacke und Hose.
Er suchte nach Waffen.
Dann trieb er mich durch Gänge und schob mich in eine Zelle. Es war die Nummer 54.
Würde man hier später eine Bronzetafel zur Erinnerung an meine Leidenszeit anbringen?
„Nix sprechen, nix liegen, nix schlafen, nix singen, nix klopfen, nix Fenstergucken“, sagte er. Alle übrigen Verbote hatte ich zu ahnen.

Ich hängte meinen Mantel an einen Haken in der Tür. Da klatschte es draußen. Ich hatte eine Signalvorrichtung ausgelöst, durch die der Posten herbeigerufen wurde.
Er kam schimpfend angerannt und donnerte gegen die Tür.

Ich stellte mich an die Heizung und wärmte mir die Füße.
Die Zelle war völlig leer. Die Pritsche mit Strohsack war einziger Einrichtungsgegenstand.
Irgendwo klopfte es. Im Terrazzofußboden tausend Bilder: Hund, Fisch, Palme. Eine alte Frau mit Holz.
Jemand hatte ins Trinkwasser gespuckt.

Ich legte mich auf die Pritsche.
Kaum lag ich, kam der Posten rein. „Nix liegen!“ Erst wenn die Glocke klingelte, dürfte ich mich hinlegen.
Also wieder hoch und warten. Bis gegen Mitternacht wanderte ich hin und her, dann endlich klingelte es.

Am anderen Morgen studierte ich an den gekalkten Wänden die Inschriften.

„Und wieder ging ein junges Leben
unaufgeblüht ins Grab,
das allzu hast’ge Streben
riß ihm den Faden ab.“

Ein Mensch namens Lunow hatte sich wohl zwanzigmal verewigt.
Ich schrieb meinen Namen überall dahinter.

An allen Wänden Kalender. Einer mit siebzig Strichen.
Ich legte mir gleich drei an. Überm Bett einen, wenn ich aufwachte, an der Tür und unterm Fenster. Die Striche machte ich für eine Woche im voraus. So lange würde ich ja doch noch sitzen…

Mit dem Austreten war’s schwierig; als Kübel diente eine Vase mit engem Hals.

Gegen neun Uhr reichte mir der Posten einen Kanten Brot. Dazu gesüßten Gerstenkaffee und eine Vitamintablette.
Endlich konnte ich auch das Trinkwasser wechseln. Der Schleim schwamm davon.

Zu Mittag bekam ich Rübenwasser mit angebratenem Speck. Und wieder gab mir der Koch eine Vitamintablette.
Ein Zellennachbar morste: „Dünn wie Pisse!“

Das Brot teilte ich mit dem Löffelstiel in dreißig fingerlange Stücke. Die Krusten legte ich extra, desgleichen das „Marzipan“: eine millimeterstarke Schliffschicht.
Ich betete, dann wandte ich mich vom Spion ab und lutschte Stück für Stück.
Hin und wieder durchfuhr es mich: hast du auch ganz bestimmt gebetet? Vielleicht sollte ich es sicherheitshalber noch einmal tun.

Nach meiner Entlassung begann ich ziemlich sofort mit Aufzeichnungen über Bautzen.

Jahre des Lebens [unveröffentlichtes Manuskript]

Walter Kempowski mit dem Manuskript „Im Block“, Nartum 1967