Wer Gegenwart erkennen will, muß sie als etwas Vergangenes sehen. So wie man Vergangenheit nur dann begreift, wenn man sie sich vergegenwärtigt.
Culpa – Notizen zum „Echolot“, 2005

„Kempowskis Lebensläufe“ – ein Kosmos wird besichtigt


„Daß ich das noch erlebe!“ – So kommentierte Walter Kempowski in seinem Tagebuch vom April 2007 die bevorstehende Werkschau „Kempowskis Lebensläufe“ in der Berliner Akademie der Künste. Hier, am Pariser Platz in direkter Nähe zum Brandenburger Tor, also an einem wirklich geschichtsträchtigen Ort, wurde am 19. Mai 2007 eine Ausstellung eröffnet, die zum ersten Mal vielschichtige Einblicke in das Lebenswerk Walter Kempowskis bot.
Zu diesem besonderen Anlass waren viele gekommen – Bundespräsident Horst Köhler, Akademiepräsident Klaus Staeck, Schriftstellerkolleginnen und -kollegen, die Familie, Freunde, Akademiemitglieder, Kulturinteressierte und Journalisten! Nur einer fehlte an diesem warmen Frühlingstag in Berlin – Walter Kempowski selbst. Er war durch seine Erkrankung bereits zu geschwächt, als dass er die Reise in die deutsche Hauptstadt hätte antreten können.

 

Ein beispielloses Lebenswerk


Die Ausstellung machte nachhaltig deutlich, wie facettenreich und kreativ das Werk Walter Kempowskis sich darstellt und entsprechend auch betrachtet werden muss. Die Besucher erhielten einen überwältigenden Eindruck von der Schreibwerkstatt des Schriftstellers aus Nartum, von seinen Mühen, Erinnerungspartikel zusammenzutragen und das zu bewahren, was unser aller Geschichte ist, wie es im Vorwort des „Echolot“ sinngemäß heißt.
In fünf Räumen zeichnete die Ausstellung Leben und Werk von Walter Kempowski nach. Ausgangspunkt war die Haftzeit im Zuchthaus Bautzen. Es folgten eine Dokumentation zu Kempowskis Leben als Pädagoge, Archivar und Schriftsteller sowie die imposante Aufbereitung seines Gesamtwerks mit Objekten, Fotos, Manuskriptauszügen und Notizen. Der vierte Raum war gänzlich dem „Echolot“ gewidmet: Auf einer akustischen Endlosschleife lasen Mitglieder und Mitarbeiter der Akademie der Künste „Echolot“-Texte des 1. Januar 1943. Den Abschluss bildete eine Präsentation von Dokumenten aus dem von Walter Kempowski gegründeten Archiv für unpublizierte Autobiographien. Fotostrecken, biografische Texte, vom Autor selbst nach Schlagworten verzettelt und gegliedert, zeichneten mehr als ein Jahrhundert deutscher Geschichte lebendig und anrührend nach. Die Exponate offenbarten einmal mehr die Materialfülle des Biographien-Archivs, hinter der sich doch immer und immer wieder Einzelschicksale verbergen.

Daß ich alles zu einem guten, geschlossenen Ende bringen konnte, ist das Besondere. Und wie viel Zeit und Gedanken habe ich verwendet darauf, mir die „Gesamtarchitektur“ immer wieder klarzumachen.
Walter Kempowski, Tagebuch am 15. Mai 2007

Sisyphos, Übersicht des Gesamtwerks, 1977.

 

Die Ausstellung „Kempowskis Lebensläufe“ war einer der kulturellen Höhepunkte im Akademieprogramm des Jahres 2007. Sie wurde möglich, weil Walter Kempowski seine Archive bereits im Oktober 2005 der Akademie der Künste überlassen hatte. Auf mehr als 600 laufenden Regalmetern wartet der Kempowski-Kosmos seitdem darauf, erlesen und ergründet zu werden. Die Kempowski-Archive gehören bis heute zu den meistnachgefragten Beständen in der Akademie.
Zu der Ausstellung „Kempowskis Lebensläufe“, kuratiert von Dirk Hempel unter Mitwirkung von Akademiemitarbeiterinnen und -mitarbeitern, erschien ein umfangreicher Ausstellungskatalog unter gleichem Titel, der von der Stiftung Buchkunst im Wettbewerb „Die schönsten deutschen Bücher 2007“ mit einer Anerkennung ausgezeichnet wurde.

Besonders wichtig ist mir die Wahl des Standortes. Berlin, unsere Hauptstadt. Der Pariser Platz, das Brandenburger Tor, durch das Napoleon einzog, die kaiserlichen deutschen Truppen 1871 siegreich zurückkehrten und dann 1914 mit klingendem Spiel ins Verderben zogen. Rote Revolutionäre, braune Horden folgten. Ein Platz der deutschen Geschichte, der lange zugemauert war.
Walter Kempowski in seinen Dankesworten zur Ausstellungseröffnung, 2007

Eva Luise Köhler, Hildegard Kempowski, Bundespräsident Horst Köhler und der Präsident der Akademie der Künste Klaus Staeck.

 

Stimmen zur Ausstellung


Wenn ich heute Walter Kempowski einen Volksdichter nenne, dann hoffe ich, dass er dagegen keinen Einspruch erhebt. Diesen Titel kann er nicht nur in Anspruch nehmen, weil so viele Menschen seine Bücher lesen und noch immer die Verfilmungen von „Tadellöser & Wolff“ ansehen, sondern vor allem deshalb, weil er, wie kein anderer, das Volk selbst zum Sprechen gebracht hat. Kein anderer hat den Menschen so ihre Stimme gegeben, oder besser gesagt: ihre Stimme erhalten und für alle Zeiten bewahrt.
Bundespräsident Horst Köhler

 

Was Walter Kempowski im Laufe seines 50-jährigen literarischen Lebens geschrieben und gesammelt hat, kann mit gutem Grund ein Jahrhundert-Archiv genannt werden. Ein auch nur ferner vergleichbares literarisch-dokumentatives Archiv, wie es nun auf die Akademie der Künste übergegangen ist, gibt es nicht. Neben den Literaturwissenschaftlern und Kunsthistorikern werden auch die Zeithistoriker auf lange Sicht an diesem ungeheuren Fundus arbeiten.
Akademiepräsident Klaus Staeck

An diesem Tag gehen meine Gedanken zurück an die Erlebnisgrundlagen, in denen mein ganzes Werk wurzelt. An das schöne Rostock, das eindrückliche Bautzen, an den Anfang meiner Arbeit in Göttingen 1956 und an die Crew, die jahrelang in Nartum freundlich und nimmermüde diese Arbeit unterstützte.
Walter Kempowski in seinen Dankesworten zur Ausstellungseröffnung, 2007

Klaus Staeck und Horst Köhler in der Ausstellung „Kempowskis Lebensläufe“.