Plankton – ein kollektives Gedächtnis

Der Nachlass des Schriftstellers Walter Kempowski birgt neben unzähligen Notizzetteln und regelmäßig geführten Tagebüchern auch Rohfassungen einzelner Projekte und einige Manuskript-Entwürfe.

Der Autor verwendete speziell angefertigte weiße Kartons, um sie zu sortieren und zu lagern. In einem dieser Kartons wartete das Projekt „Plankton“ auf seine Realisierung. Unter dem Kartondeckel fanden sich Hunderte von ausgedruckten Seiten, obenauf ein Blatt mit einem handgeschriebenen Zitat aus einem Buch von Michel Leiris: „Mehr noch als die anderen bin ich gerade von diesem eiskalten Dämon der Befragung besessen.“
Dieses von Walter Kempowski notierte und dem „Plankton“-Manuskript quasi vorangestellte Zitat offenbart eine zutreffende Selbsteinschätzung des Schriftstellers. Es weist aber auch auf den Inhalt dessen, was sich hinter „Plankton“ verbirgt: unzählige Erinnerungen von Menschen, die der Autor in nahezu 50 Jahren befragen konnte.
Walter Kempowski erkundigte sich nach der ersten Liebe, nach Begegnungen mit Prominenten, nach Reiseerlebnissen und Möbelstücken, nach dem Lieblingsgericht und Bibelzitaten, nach Vater und Mutter, den Großeltern oder dem Lieblingsspielzeug. Seine Neugier auf das, woran sich der Einzelne erinnerte, war scheinbar grenzenlos. 

„Kleine autonome Texte von hoher literarischer Qualität!“

Die Antworten, die Walter Kempowski von Familienangehörigen, Freunden, Bekannten, aber auch bei Zufallsbegegnungen mit Menschen auf der Straße oder im Zug erhielt, notierte er im Tagebuch, auf Speisekarten, Servietten oder Notizzetteln und sammelte sie akribisch. „Plankton fischen“ wurde dieses Abfragen von Gedächtnisbildern im Hause Kempowski genannt.
Auf diese Weise entstand über die Jahre ein scheinbar uferloses Erinnerungsmeer, die einzelnen Beschreibungen führen den Leser in fremde Welten, in vergangene Zeiten und manchmal auch in die Irre – dann, wenn die geschilderte Erinnerung ein Irrtum ist, ein Trugbild, das als solches im Gedächtnis des Erzählers überdauert hat.

Für die Publikation wurden die jahrzehntelang zusammengetragenen Erinnerungsbilder in zufälliger Reihenfolge gemischt – nicht nur hier folgte die Herausgeberin Simone Neteler einem Wunsch des Autors. Entstanden ist auf diese Weise ein typisch kempowskieskes Werk – und fast wie von selbst ein literarisches Kunstwerk der Moderne, vor allem aber ein einzigartiges Lesevergnügen.

Es ist eigentlich ganz egal, wo man das Plankton fischt. Ob im Foyer eines Hotels, ob in der Bahn im Abteil oder unter Freunden. Niemand wundert sich darüber, daß ich mein Büchlein zücke und einfach mitschreibe.
Walter Kempowski im Oktober 2006

 

Das „Plankton“-Projekt im Internet


Auf Initiative des Knaus Verlags und der Herausgeberin wird das „Plankton“-Projekt im Sinne Walter Kempowskis fortgeführt. Auf der Internetseite www.kempowski-plankton.de kann jeder Interessierte eigene Erzählpartikel verfassen und dem vorliegenden Erinnerungskosmos beigeben…