Walter Kempowski am 31. Dezember 1990
Hamit – Tagebuch 1990, 2006
Heimat können wir abhaken. Geblieben ist das Heimweh.
Immer bin ich in Rostock gewesen, auch in den Jahren der Trennung. Ich habe diese Stadt vor und zurück beschrieben, Fotos gesammelt, ja, ich bin sogar so weit gegangen, sie in Papier nachzubauen! Sehnsucht ist gar kein Ausdruck!
Hamit – Tagebuch 1990, 2006
„Sehnsucht ist gar kein Ausdruck!“
„Drei Bilder von Rostock hängen über meinem Schreibtisch.“ – Mit diesen Worten beginnt der Roman „Aus großer Zeit“. Hier wie auch in fast allen anderen Romanen der „Deutschen Chronik“ hat Walter Kempowski nicht nur seiner Familie, sondern auch seiner mecklenburgischen Heimatstadt ein Denkmal gesetzt. Die Kempowskis betrieben an der Warnow bis zum Kriegsende eine Reederei und Schiffsmaklerei. Das Kontor befand sich in der Strandstraße mit Blick auf den alten Hafen. Hier arbeitete erst Großvater Robert William Kempowski, später der Vater Karl Georg und auch Bruder Robert. Nach Kriegsende – der Vater war gefallen – wurde eine Wiederaufnahme der Geschäfte von den russischen Besatzern unterdrückt.
Verhaftet, verurteilt – alles verloren
Walter ging im November 1947 in den Westen und arbeitete in Wiesbaden für ein Lebensmittelgeschäft der US-Army. Im Gepäck hatte er Frachtpapiere, die die Ausplünderung der sowjetischen Besatzungszone durch die Russen dokumentierten und die er dem amerikanischen Geheimdienst übergab.
Kurze Zeit später kehrte der 18-jährige Walter noch einmal nach Rostock zurück. Bei diesem Besuch wurde er – genauso wie sein Bruder Robert – am 8. März 1948 verhaftet. Im September 1948 geriet auch die Mutter Margarethe Kempowski in die Fänge der sowjetischen Geheimpolizei. Sie wurde im Januar 1949 wegen Mitwisserschaft zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt und kam in das Frauengefängnis Hoheneck. Ihre Söhne Walter und Robert waren da bereits wegen Spionage zu je 25 Jahren Arbeitslager verurteilt worden und saßen im Zuchthaus Bautzen ein, dem „Gelben Elend“, wie es wegen seiner Fassadenfarbe genannt wurde.
Die Kempowskis verloren alles: die Firma, die Wohnung, das Mobiliar, die Heimat. Fotos, Briefe, Bücher – alles vernichtet. Ihre bürgerliche Existenz, die sie sich in Rostock aufgebaut hatten, war von einem Moment zum anderen zerbrochen.
Die Mutter wurde 1954 aus dem Gefängnis entlassen und suchte nicht den Weg zurück nach Rostock. Sie ging in ihre Heimatstadt, nach Hamburg. Und auch Walter und Robert folgten ihr nach der Haftentlassung in den Westen, Walter im März, Robert im September 1956.
Die fast ausschließliche Beschäftigung mit der Rekonstruktion von Vergangenem, von Heimat, die uns ja nur dann fordert, wenn wir sie nicht mehr haben, entfremdete mich den Realitäten. Ich hatte ein Bild von Rostock „in meinem Herzen“, das mit Rostock nicht mehr viel zu tun hatte.
In Rostock, 1990
Die Rückkehr in die Heimatstadt
Zwei kurze Besuche in den 1970er-Jahren, dann wurde Walter Kempowski 1981 mit einer Einreisesperre in die Deutsche Demokratische Republik belegt, die erst mit dem Fall der Mauer wieder aufgehoben wurde. Deshalb kehrte der Schriftsteller erst im Januar 1990 nach Rostock zurück. Als entrechteter Gefangener der sowjetischen Besatzer hatte er die Stadt verlassen. Zurück kam er mehr als 40 Jahre später als einer der vielseitigsten deutschsprachigen Gegenwartsautoren – ein Sohn dieser Stadt!
Das Wiedersehen mit der Heimat war überwältigend. Es weckte Erinnerungen, riss jedoch auch alte Wunden auf. Die ehemals elterliche Wohnung in der Augustenstraße, mittlerweile als Aufenthaltsraum für Fabrikarbeiter genutzt; das frühere Geschäftshaus in der Strandstraße, inzwischen eine baufällige Ruine. Der Hopfenmarkt, das Café Herbst, die Marienkirche: „Alles ist noch wie früher, nur etwas heruntergekommen.“
Von da an besuchte Walter Kempowski Rostock regelmäßig. Er wurde Ehrenbürger der Stadt und erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität.
Das Kempowski Archiv Rostock, untergebracht in einem der Häuser am Klosterhof, zeigt einen Teil des schriftstellerischen Werkarchivs als Dauerausstellung.
Rostock – alte Liebe
Walter Kempowski konservierte seine Erinnerungen an Rostock in seinen Büchern. Er baute einzelne Gebäude der Stadt maßstabgetreu aus Papier nach, rekonstruierte die Bibliothek seiner Eltern und stellte eine umfassende Fotosammlung von Rostocker Stadtansichten zusammen. In die Wände des Kreienhoop-Turms ließ er Ziegelsteine von Rostocker Kirchen, Stadttoren bzw. der alten Stadtmauer einarbeiten, per Segelschiffkompass wurde die Richtung bestimmt, in der Rostock liegt. Und unter der Granitplatte in der Turmmitte ist ein Fläschchen mit Rostocker Erde eingelassen.
Traum
Ich bin in Rostock und steige in unserm Haus die Treppen rauf und runter: Manche Tür steht offen, sauber gemachte Betten sind zu sehen. Ich höre eine Stimme: „Er will sich ja bloß sein Haus noch mal angucken. Laß ihn doch!“
Sirius – Eine Art Tagebuch, 1990
Rostocker Ziegel im Kreienhoop-Turm
Walter Kempowski über seine Rückkehr nach Rostock im Januar 1990
Die Brausefabrik existiert noch, und das Haus, in dem wir wohnten, die Nr. 90, dient jetzt den Arbeitern als Kantine. Ich zog Robert mit ins Treppenhaus. […] In diesem Treppenhaus hatte mein Großvater mich gestoppt, als ich aus der Schule kam, und mir ins Ohr geflüstert: „Dein Vater ist tooot…“, und bei meiner Verhaftung, als sie mich hinunterführten, hatte die Mutter oben gestanden und gesagt: „Armer Junge.“
[…]
An einem der Fenster hing noch das Außenthermometer, dessen Glas schon damals an der unteren Schraube gesprungen war. „Gottsdonner!“ sagte mein Bruder.
Der Rostfleck in der Badewanne.
Hamit – Tagebuch 1990, 2006